Mit Haut und Haar - Begreifen durch Berühren: Der Tastsinn macht höher – FRITZO®
Skip to content

FREE SHIPPING

    INNOVATION MADE IN GERMANY

    4.5/5.0

    Mit Haut und Haar - Begreifen durch Berühren: Der Tastsinn macht höhere Gehirnleistungen erst möglich.

    Mit Haut und Haar

    Begreifen durch Berühren: Der Tastsinn macht höhere Gehirnleistungen erst möglich.

    Von Bettina Musall

    21.08.2017, 18.00 Uhr • aus SPIEGEL Wissen 4/2017



    Die Frau im Blazer spricht vor großem Publikum, als ihr am Ende der Rede ein Wort nicht einfallen will. Suchend und ratlos schaut sie in den Saal, »es war etwas ganz Einfaches«. Die Wortfindung zieht sich, das Publikum klatscht, die Rednerin lächelt, charmant, aber verunsichert. Nach einer gefühlten Ewigkeit streicht sie sich das Haar hinters Ohr – und nur fünf Sekunden später ruft sie erleichtert: »Festnetz! Festnetz!« Begriff gefunden, und die Lacher hat sie auch auf ihrer Seite.

    »Ein klassisches Beispiel für erfolgreiche Selbstberührung«, sagt Martin Grunwald, Leiter des Haptikforschungslabors an der Universität Leipzig. Bis zu 800-mal am Tag fasst der Mensch sich irgendwo am Körper an, meist unbewusst. EEG-Messungen zeigen, dass sich schon nach minimalen Berührungen, etwa einem Griff ins Haar, die Hirnaktivität massiv verändert. »Wir wissen nicht genau, was dabei im Gehirn geschieht, aber es hilft, um bei einem Aussetzer wieder ins Lot zu kommen.«

    Wie Angela Merkel, die Rednerin im Blazer, deren Lapsus beim IT-Gipfel 2014 in Hamburg mittlerweile über 600 000 Aufrufe auf YouTube hat.

    Die Selbstberührung ist nur eine von unzähligen Handlungen, die der Mensch mithilfe seines Tastsinns ausführt, um sich seiner selbst in der Welt zu vergewissern. Der Tastsinn – das Fühlen und Berühren von Gegenständen, Materialien, Lebewesen, der Umgebung – gibt ein Gespür für den eigenen Körper im Raum, über die Fingerspitzen, die ganze Hand, die Fußsohlen. Die Haut mit ihren auf 300 bis 600 Millionen geschätzten Rezeptoren registriert sinnlich und unwillkürlich, wo das eigene Ich aufhört und das Draußen anfängt. Ob wohlbehalten oder unbehaglich, geborgen oder verloren – immer geht es buchstäblich darum, wie man sich fühlt.

    Blind und taub kann der Mensch leben, auch ohne Geruchs- und Geschmackssinn steht das Dasein – sei es noch so reduziert – nicht auf dem Spiel. Für den Tastsinn gilt das nicht. »Ohne dieses Sinnessystem«, schreibt Haptikforscher Grunwald in seinem neuen Buch »Homo Hapticus«, »wüss-ten wir nicht einmal, dass wir existieren, und könnten nicht überleben« – ein biologisches Grundgesetz, das für alle Lebewesen, vom Einzeller bis zum Homo sapiens, gilt.

    Dennoch wird der Tastsinn im Vergleich zu Augenlicht und Gehör unterschätzt, vielleicht, weil er so unabschaltbar und selbstverständlich immer arbeitet. Die Augen kann man schließen, Ohren und Nase verstopfen. Unser größtes Organ aber, beim erwachsenen Mann knapp zwei Quadratmeter Haut, nimmt ununterbrochen Dehnungs-, Druck- und Vibrationsinformationen entgegen und leitet sie via Rückenmark an die Großhirnrinde weiter.

    Schon wenige Wochen nach der Befruchtung zuckt der Embryo im geschützten Raum der Gebärmutter zusammen, wenn er Berührungsreize verspürt. Später wachsen dem Fötus am ganzen Körper vorübergehend Härchen, das sogenannte Lanugohaar; jede Schwankung des Fruchtwassers, jede Regung der Mutter und jede eigene Bewegung werden über diese Miniaturantennen an das neuronale System weitergegeben. Hypothalamus und Inselkortex werden stimuliert, das Wachstumshormon Oxytocin wird ausgeschüttet, das später elementar wichtig wird für alle kognitiven, körperlichen und sozialen Entwicklungsprozesse des Kleinkinds.

    Der Fötus spürt die eigene Bewegung, was ihn, so vermuten Wissenschaftler, zu mehr Bewegung anregt. Seine Berührungssensibilität sorgt von Anfang an im Mutterleib für »eine emotionale Verbindung zwischen Berührung und Bewegung«, so Grunwald. »Alle anderen Sinnessysteme, Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, starten ihre Entwicklung erst in den letzten Wochen vor der Geburt.«

    Was passiert, wenn Säuglinge aufwachsen, ohne dass sie liebevoll gehalten und gestreichelt werden, ohne dass sie Spielsachen anfassen und erforschen, ihre Welt im Wortsinn begreifen können, zeigte sich, als amerikanische Wissenschaftler vor anderthalb Jahrzehnten vernachlässigte rumänische Waisenkinder in Pflegefamilien gaben und über Jahre beobachteten. Kinder, die vor ihrem zweiten Geburtstag aufgenommen wurden, konnten Entwicklungsstörungen wie verminderte Intelligenzleistungen oft mit der Zeit ausgleichen. Später adoptierten Kleinkindern gelang das nicht mehr.

    »Haptisch und taktil wenig stimulierende Umwelten«, so Forscher Grunwald, »fördern nicht die Erkundungs- und Anpassungsbereitschaft eines Kindes.« Reifungs- und Entwicklungsprozesse werden beeinträchtigt. Ohne das Fühlen wären wir unfähig zu höheren Geistesleistungen. Grunwald ist in der DDR aufgewachsen. Er erinnert sich an einen Spruch aus seiner Schulzeit: »Wer Flickflack kann, macht Abitur.«

    Zwar lernt der Mensch in keiner anderen Lebensphase so stark wie in den ersten drei Lebensjahren. Qualitativ jedoch vermittelt der physische Kontakt auch später noch elementare Informationen, Fertigkeiten, Erlebnisse und Erfahrungen.

    Eines der frühsten und verblüffendsten Experimente zur Bedeutung des Tastsinns fand 1963 statt. Die US-Forscher Richard Held und Alan Hein setzten zwei Kätzchen, die bis dahin in völliger Dunkelheit aufgewachsen waren, in ein kleines beleuchtetes Karussell mit zwei Gondeln. Die eine Katze lief auf ihren Pfoten im Kreis und bewegte das Karussell. Die andere saß in ihrer Gondel und wurde nur herumgefahren. Nach einigen Wochen hatte die laufende Katze sehen gelernt, die andere blieb so gut wie blind. Ohne ihren Tastsinn konnte sich ihr Sehsinn nicht entwickeln. Körper und Geist gehen beim Lernen eine Symbiose ein.

    Was die Leipziger Haptikforscher seit Jahren aus anthropologischer Neugier ergründen, wird nun, getrieben von industriellen Interessen, im großen Maßstab erforscht. Vor einem Jahr hat die Ingenieurin Katherine Kuchenbecker, vom »New Yorker« zur »Königin der Haptik« gekürt, am Stuttgarter Max-Planck-Institut eine Abteilung für haptische Intelligenz gegründet. Sie arbeitet daran, Roboter, die in Medizintechnik oder Autobau eingesetzt werden sollen, mit einem Tastsinn auszustatten. Sie ist sicher: Solange die Automaten kein taktiles Empfinden haben, werden sie außerstande sein, den Menschen zu ersetzen. Haptische Intelligenz, sagt die Amerikanerin, sei »der Schlüssel zur menschlichen Intelligenz«.

    Fühlpionier Grunwald pocht auf die Unterschiede zwischen analogem, tastendem Erfahren einerseits und digitalem Lernen andererseits. Die dreidimensionale Welt lasse sich nur dreidimensional erfahren und verstehen. »Es ist etwas vollkommen anderes, ob ich eine Blume auf meinem Touchpad hervorzaubere oder ob ich eine echte Pflanze säe, begieße und zupfe.«

    Kalifornische Psychologen analysierten in einer Studie die Siegesgesten von Basketballprofis; Faustknüffe, High-Fives, Knüffe gegen Brust, Schulter oder Bauch, liebevolle Kopfstöße, Teamkreise und Umarmungen. Ergebnis: Die Mannschaften, deren Spieler sich häufiger berührten, schnitten erfolgreicher ab als die mit weniger Körperkontakt.

    Bettina Musall kann sich nichts Sinnlicheres vorstellen, als mit geschlossenen Augen durch Ertasten Filz von Samt, Kies von Sand, Fuß von Hand zu unterscheiden.